Corona und Chöre – Chancen und Probleme in unsicheren Zeit
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Das Singen in der Gruppe gilt derzeit als sehr gefährlich. In den Schulen findet kein gemeinsames Singen statt und auch das Singen beim Gottesdienst ist verboten. Zu hoch sei das Ansteckungsrisiko mit dem Coronavirus.
Dies trifft mit voller Wucht die vielgestaltige Chorlandschaft. Manch einer sieht eine Chance in der Situation, in anderen Chören beschleunigt Corona das Aus. Ein sehr vielseitiger Blick bietet sich beim genaueren Hinsehen. Wie ist Singen trotz Corona möglich? Und wie geht es den Chören mit Corona?
Großer Zuspruch für Jugendchor
30 junge Sänger und Sängerinnen betreten das Bürgerhaus, die große Fensterfront ist weit geöffnet, um für genügend Durchlüftung zu sorgen. Alle tragen einen Mund-Nasen-Schutz. Sie schreiben sich in die Liste, die Hände werden desinfiziert. Unter Anweisung des Dirigenten Nicolas Ries verteilen sie sich auf ihren Plätzen, Ries achtet dabei auf den nötigen Abstand. Bevor er mit den Proben beginnt, macht er ein Foto zur Dokumentation. Bereits für März war die Gründung des Jugendchores „Pitch Please“ in Elz geplant, alle Flyer und Werbematerialien bestellt, bereit, verteilt zu werden. Und dann kam der Lockdown. Im Juni haben sie dann mit der Probenarbeit begonnen, nachdem Ries ein umfangreiches Hygienekonzept erstellt hat. Mit einigen ersten Sängern haben sie ein Werbevideo gedreht und in den sozialen Medien geteilt. Die Resonanz war erstaunlich, so dass der Jugendchor inzwischen über 30 Mitglieder hat. Mitten in der Krise haben sie was Neues gewagt und damit auch den richtigen Riecher gehabt. Doch dies ist nur eine Geschichte, die in diesem Jahr geschrieben wird.
Umfrage an die Chöre
Parallel dazu gibt es ebenfalls in den Nachrichten zu lesen, dass Singekreise ihre Chortätigkeit beendet oder andere Chöre Angst haben, die Krise nicht zu überstehen. Es ist nicht nur das fehlende Singen, sondern allgemein das fehlende Miteinander, was zum Auseinanderbrechen bestehender Strukturen führt. Ältere Sänger und Sängerinnen kommen aus Angst nicht mehr zu den Proben. Die Fluktuation ist viel größer als in normalen Jahren, berichten einige Chorleiter. Das sehr differenzierte Bild der aktuellen Chorlandschaft gibt auch eine Umfrage wieder, welche die beiden Chorleiter Sebastian Kunz und David Fritzen an rund 500 Chöre aus den Sängerkreisen Limburg, Oberlahn, Unterlahn, Westerwald und Goldener Grund verschickt haben. 156 Antworten erhielten sie bereits. Von den antwortenden Chören haben 73,1 Prozent seit März wieder geprobt, aber 26,9 Prozent nicht. „Die Ergebnisse der Umfrage ergaben bisher für uns keine großen Überraschungen“, fasst Sebastian Kunz bei einem Interview zusammen, „aber sie bestätigen mein Bauchgefühl.“
Neben der Umfrage starteten die beiden auch den ChorCast „Unerhört Gehört“, um darüber zu sprechen, was gerade in der Chorszene geschieht. In der ersten Folge kritisieren sie, dass weder vom Chorverband noch vom Sängerbund das Thema aktiv in die Hand genommen wird, um die Vereine zu unterstützen. Irgendwie sind alle auf sich alleine gestellt und müssen sehen, wie sie die Situation umsetzen. „Alles ist im Stillstand, alles ist abgesagt. Man muss erstmal wieder auf die normale Schiene geraten, wir sind ein wenig ziellos geworden“, so die beiden Chorleiter. Ihr Ziel ist es, Lösungen zu finden für die Zukunft der Chöre und diese auch einer breiten Hörerschaft mitzuteilen.
Fehlende Räume und fehlende Einnahmen
Neben dem Hygienekonzept sind die Räumlichkeiten ein großes Problem. Die Chorvereinigung Liedertafel aus Oberzeuzheim ist seit August wieder am Proben. Zuerst durften sie die Kirche für die Proben nutzen. Ihr Vereinslokal war einfach zu klein. „Es ist kalt in der Kirche“, so Christian Kalowsky. Jetzt darf der Chor mit Konzept ins Pfarrheim ausweichen. Aber er berichtet auch, dass nur die Hälfte der Sänger zu den Proben kommt, weil die andere Hälfte zu den Risikopatienten zählt. Und so hat er manchen Sängerkollegen seit März nicht mehr gesehen. „Es ist eine liebgewonnene Routine für die Älteren und die Geselligkeit fehlt“, so Kalowsky weiter.
Ein Sänger wurde im Sommer 85 Jahre alt und feierte 70 Jahre als Sänger. Unter Abstand traf sich die Chorvereinigung im Garten, um dem Jubilar ein Ständchen zu bringen. Dies sei sehr bewegend gewesen. Finanziell geht es dem Verein recht gut, da er sich im Jubiläumsjahr 2019 ein gutes Polster anlegen konnte. Und ein großer Teil der Ausgaben sei durch die Mitgliedsbeiträge gedeckt. Kalowsky bedauert es jedoch, dass die gute Form des Chors gelitten hat und diese jetzt erst wieder aufgebaut werden muss. Abschließend meint er jedoch: „Ich bin besorgt, aber heiter. Die Situation ist nicht schön, aber nicht zu ändern.“
Neben dem gemeinsamen Singen sind die Finanzen ein weiteres Problem der Chöre. Zwar müssen derzeit keine neuen Noten angeschafft, doch die Chorleiter müssen bezahlt werden. Und da Konzerte sowie die Beteiligung an weiteren Veranstaltungen wie Kirmes wegfallen, fehlen den Vereinen die Einnahmen. In der Umfrage gaben von 42 Chören, bei denen derzeit die Proben ruhen, nur 9,5 Prozent an, dass sie ihre Chorleiter weiterbezahlen. 26,2 Prozent haben die Zahlung an die Chorleiter reduziert und 64,3 Prozent der ruhenden Chöre zahlen ihre Chorleiter derzeit gar nicht.
Auch die Liederblüte Oberweyer musste sich mit dem Thema beschäftigen. Vor Corona beschäftigte sie für den Männer-, Frauen- und Kinderchor insgesamt drei Chorleiter. „Wir haben sehr früh Gespräche mit unseren Chorleitern geführt“, so der Vorsitzende Klaus Härtle. Für den Kinderchor finden derzeit keine Proben statt und hier wird der Chorleiter nicht weiter bezahlt. Dem Verein fehlen die Einnahmen, da sie keine Veranstaltungen durchführen können. Begeistert war Härtle über die Resonanz der Mitglieder, als der Verein diese in einem Bittschreiben um Spenden gebeten hatte. Die fehlenden Einnahmen können dadurch zwar nicht kompensiert werden, aber es hilft dem Verein ungemein.
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Digitalisierung als Ersatz?
Manche Chöre proben seit Juni wieder, andere haben im August angefangen. Einige Chöre probten open Air, weil die Räumlichkeiten fehlten. Die sehen sich jetzt im Winter vor dem Problem, dass sie keine Räume gefunden haben, in denen sie mit genügend Abstand proben können. Manche setzen dadurch auch weiterhin mit den Proben aus. In anderen Bereichen war durch die Digitalisierung ein schneller Ersatz gefunden, doch im Chorbereich gestaltet sich dies schwierig. In der Umfrage gaben 32,5 Prozent an, digitale Proben durchgeführt zu haben. 14 Prozent haben Videokonferenzen genutzt, aber mehr für den sozialen Austausch, denn das gemeinsame Singen war nicht möglich. „Singen ist etwas Emotionales, Glückshormone werden ausgeschüttelt, das Selbstbewusstsein geschärft und es ist ein Ausgleich zum beruflichen Alltag“, so David Fritzen, „die Geselligkeit in der Gruppe fehlt und dies ist durch Videokonferenzen nicht aufzufangen.“
Doch die Digitalisierung kann auch Chance sein, neue Wege zu gehen. Chorleiter Maximilian Schmitt nutzte das digitale Medium, um Online Seminare für einzelne Sänger anzubieten, damit sich diese stimmlich weiterentwickeln konnten. „Vor Corona habe ich mit den Sängern für sowas gar keine Zeit gehabt“, so Schmitt. Jetzt habe diese Art der Stimmbildung bei einigen Sängern und Sängerinnen echte Überraschungen zu Tage gefördert. Zudem nutze er die Onlinevarianten, um Einblicke in die Chormusik zu geben. Er spricht von einer „Entmystifizierung der Chormusik“, denn seiner Meinung nach kann jeder singen lernen. „Die Digitalisierung hat die Möglichkeiten zur Fortbildung vergrößert“, ist er sich sicher. Daher sieht er in der ganzen Situation auch eine Chance für die Chöre.
Singen mit Abstand
Doch wie sieht es mit den Proben mit Abstand aus? Nicolas Ries, der neben dem Jugendchor auch den Männerchor des Frohsinn Elz leitet, sieht in dem Singen auf Abstand so einige Probleme. „Idealerweise hört der Sänger links und rechts seinen Nachbarn und die Stimmen passen sich aneinander an“, so Ries. Mit Abstand sei dies nicht möglich. Jeder singt für sich und im Raum entsteht ein Hall, den die Sänger dann hören. Er hat in den letzten Wochen die Erfahrung gemacht, dass dies Auswirkungen auf das Tempo der Stücke hat. Denn die Sänger werden alle langsamer. Auch so würde der Hall insgesamt die Probenarbeit erschweren.
„Wir sollten den Abstand nicht immer als Problem sehen“, ist die Meinung von Maximilian Schmitt, „die Sänger lernen jetzt, auf ihre eigene Stimme zu vertrauen und im Miteinander entstehen völlig neue Klänge.“ Zudem spricht Schmitt ein großes Lob an alle Beteiligten aus. Diese nutzen die unsichere Situation als Chance, um neue Ideen zu entwickeln. „Hut ab vor Ulrich Heun, als 1. Vorsitzender in Oberbrechen, Dinge anzupacken“, so Schmitt. So nutzte der Chor die Zeit, um Ideen zu entwickeln und im neuen Jahr soll ein Kinderchor gegründet werden.
So lange draußen geprobt werden konnte, war die Zusammensetzung der Luft kein Problem. Doch in den Innenräumen sieht dies anders aus. Bei drei Meter Abstand lautet die Vorgabe, dass der CO2-Gehalt in der Luft 800 ppm (1070 mg/m3 Stickstoffmonoxid) nicht übersteigen darf. Um ein sicheres Gefühl für die Probenarbeit zu vermitteln, hat die Liederblüte Oberweyer damit begonnen, die Proben mit einem CO2-Messgerät zu überwachen.
„Wie immer machten die Damen zwei Probeeinheiten á 30 Minuten mit einer 15-minütigen Lüftungspause und der Männerchor tat es ebenso. Angefangen hatten wir mit einem CO2 Wert von 430ppm, am Ende der beiden Proben, die insgesamt 180 Minuten dauerten, war der Wert bei 654ppm und damit weit entfernt von der 800ppm Grenze“, fasst Klaus Härtle die Ergebnisse zusammen, „Das macht uns sehr zuversichtlich, dass wir auch in den Wintermonaten weiterhin im DGH proben können. Den Einsatz eines solchen Messgerätes kann ich nur jedem Chor empfehlen, denn dies bedeutet eine zusätzliche Schutzmaßnahme.“
Musikalischer Adventskalender
David Fritzen äußert im ChorCast, dass im Sommer die Situation der Chöre nicht so auffiel. Zwar fielen Konzerte und Veranstaltungen weg, doch nun steht Weihnachten vor der Tür. Niemand möchte sich Weihnachten ohne Chorgesang und Weihnachtskonzerte vorstellen. Neben der Limburger Chornacht, welche schon ausgefallen ist, fällt auch das Benefizkonzert zu Gunsten der Leberecht-Stiftung aus. Vor rund drei Wochen hatten Jürgen Faßbender und Maximilian Schmitt eine spontane Idee: „Wir wollen etwas für die Weihnachtszeit anbieten und den Chören auch ein Ziel für ihre Probenarbeit geben.“ Heraus kam ein Männerchor-Adventskalender, an dem sich 24 verschiedene Chöre beteiligen. Auf der Benefiz-CD finden sich 24 verschiedene Stücke zur Advents- und Weihnachtszeit, alle Beteiligten verzichten auf Honorare für den guten Zweck. Bei den Chorleitern und beteiligten Chören können die CDs bestellt werden.
Mitgwirkt haben: Camerata Musica, Cantabile, Sonamento, Vocapella, Harmonie Lindenholzhausen, Cäcilia Lindenholzhausen, Sängerbund Dehrn, MGV Oberbrechen, MGV Obertiefenbach, Frohsinn Elz, Germania Freiendiez, Fidelio Eschhofen, Liederblüte und Junger Chor Oberweyer, Liederkranz Niederzeuzheim, Männerchor Plaidt sowie Chöre aus Horbach, Berod, Steinefrenz und Cleeberg und die Ensembles Prinzipium Canti, Steinkautlerchen und Chordon bleu. Für die Produktion bitten die Organisatoren um Spenden auf ein Sonderkonto des MGV Eintracht Oberbrechen: IBAN DE54 5709 2800 0014 0158 09. Und auch die Liederblüte Oberweyer hat sich Gedanken gemacht. Seit Jahren ist ihr Weihnachtskonzert am 4. Advent innerhalb weniger Tage ausverkauft. „Wir gehen raus und singen draußen!“, so Klaus Härtle.
Doch wie geht es weiter, jetzt, wo die Zahlen wieder steigen? Wird in ein paar Wochen das Singen auch mit Abstand und Hygienekonzepten wieder verboten sein? Wie die Entwicklung sein wird, kann niemand vorausahnen. Wie lange die Situation das Chorleben einschränken wird, kann niemand prognostizieren. Doch wie äußerte sich Jürgen Faßbender in einem Interview: „Ich finde, dass die Chorleute im Moment eine derjenigen gesellschaftlichen Gruppen ist, die am verantwortungsvollsten mit der Situation umgehen. Chorgesang hat da im Moment eine Pionierrolle. Die Leute erhalten ein Kulturgut.“