Pfarrer Andreas Fuchs: Meinungsfreiheit hört da auf, wo ich andere verletze

Die Fastnacht hat eine lange Geschichte und ist eng mit der katholischen Kirche verbunden. Bereits im Mittelalter wurden die Tage vor der Fastenzeit ausgelassen gefeiert. Kirchliche Rituale wurden parodiert und auch gotteslästernde Szenen waren erlaubt. Der Aschermittwoch galt als Umkehr zu Gott.

Auch heute wird auf den Fastnachtsbühnen die Gelegenheit genutzt, Dinge zu kritisieren und auf die Schippe zu nehmen. Doch ist in der Fastnachtszeit alles erlaubt? Darüber sprach ich mit Pfarrer Andreas Fuchs, welcher selbst aktiv als Karnevalist unterwegs ist.

Was ist in der Fastnacht erlaubt

Darf ich in der Fastnacht alles oder gibt es Grenzen, wo man sagt, dass ist unangebracht?

Pfarrer Andreas Fuchs: In meinem Verständnis von Fastnacht und Karneval geht es darum Freude zu verbreiten. Zuerst mache ich Witze über mich selbst und dann erst über andere. Ich darf mich selbst nicht zu ernst nehmen, nicht zu wichtig. Mir gelingt das gut, wenn ich dabei Anspielungen auf meine Figur mache. Ich habe Übergewicht, das sieht man und darüber darf man lachen. Das ist mein allererstes Verständnis von Fastnacht. Zweitens mache ich mich nie über andere in der Weise lustig, dass ich sie bloß stelle. Das geht für mich nicht. Auf die Frage nach den Grenzen fällt mir der Umgang mit den sogenannten Randgruppen oder Minderheiten der Gesellschaft ein. Wenn ich diese Menschen nicht in meine Witze einbeziehen würde, stempelte ich sie erst recht als Randgruppe oder Außenseiter ab. Ich nehme sie mit, mache aber keine schlechten Witze über sie. Der Lieblingswitz meines blinden Mitbruders Pfarrer Müller lautet: „Treffen sich ein Tauber und ein Blinder. Sagt der Taube zu dem Blinden, ich kann die doofen Behindertenwitze nicht mehr hören. Da sagt der Blinde zu dem Tauben, das sehe ich genauso.“ Das ist ein Witz, der gut geht, den erzähle ich gern. Der spielt auf einem ganz anderen Niveau, als wenn ich mich über Menschen mit Handicap oder besonderen Begabungen lustig mache. Ich erzähle einen solchen Witz mit Wertschätzung. Dies ist mir als Christenmensch wichtig. Das ist für mich Fastnacht.
Natürlich habe ich auch die Gelegenheit Dinge anzuprangern und überspitzt auszudrücken, um damit eine Verhaltensänderung bei den Menschen herbeiführen zu wollen. Aber als Pfarrer bin ich ja selbst eine öffentliche Person und damit nicht mehr ganz der Richtige dafür, da ich selbst zu den Verantwortungsträgern gehöre, die man in der Fastnachts- und Karnevalszeit auf lustige Weise kritisieren kann. Dies müssten dann andere Menschen mit mir tun, den Karneval als Chance nutzen sich einmal Luft zu machen. Dies ist auch aus der Tradition und Historie so wichtig, dass es dieses Ventil gab und gibt. Wie sind denn sonst die ganzen Uniformen der Fastnachter und Karnevalisten entstanden und zu verstehen? Warum werden denn sonst Orden verteilt? Dies alles hängt damit zusammen, dass man aus einer unterlegeneren kleineren Rolle sich über Menschen lustig macht, die über einem stehen, die mehr Verantwortung haben oder tragen.

Also sagen Sie, dass in die Fastnacht Kritik reinpasst, wenn sie im Witz verpackt ist? Wenn man darüber lachen kann?

Pfarrer Andreas Fuchs: Natürlich. Das ist auch wichtig. Es gibt traditionell zwei Richtungen, einmal den politischen Karneval und dann den Kokolores. Bei den politischen Büttenreden wird etwas in der gereimten Form gesagt, dies ist nicht immer lustig, es ist eher wie das Vorhalten eines Spiegels, dafür ist die Mainzer Fastnacht bekannt. Das andere ist der Kokolores, wo einfach Witze gemacht werden. Da gibt es für mich aber auch Grenzen, vor allem bei den Witzen, die unter der Gürtellinie gehen. Die kommen bei einem breiten Publikum gut an, aber das ist nicht mein Verständnis von Fastnacht. Ehrverletzende Witze gehen für mich gar nicht, das gehört für mich nicht in die Fastnacht.

Wenn ich mich hinstelle und Witze über mich selbst und über andere mache, dann muss ich auch die Bereitschaft haben, Kritik einzustecken, Witze über mich anzunehmen, die andere über ich machen. Dann kann ich nicht beleidigt sein.

Hatten Sie selbst in Ihrer Fastnachtskarriere jemanden gehabt, der der Meinung war, dass Sie übers Ziel hinausgeschossen sind?

Pfarrer Andreas Fuchs: Sowas gibt es immer wieder mal, dass Menschen ein anderes Verständnis oder eine andere Toleranzgrenze als ich haben und dann der Meinung sind, dass sich dieser Witz nicht gehört und erst recht nicht für einen Pfarrer. Meine Mutter ist jetzt 87 Jahre alt und hat im Januar Geburtstag, sie ist eine sehr gute Kritikerin. Anlässlich ihres Geburtstages halte ich jedes Jahr im Familienkreis zum ersten Mal meine Büttenrede. Sie merkt auch mal an, wenn ich etwas nicht so sagen kann und liefert mir einen besseren Witz für meine Aussage. Im Pfarrhaus teste ich meine Witze mit Pfarrer Müller aus, um zu schauen, ob es passt. Aber egal, was ich sage, es gibt immer Menschen, die haben eine andere Toleranzgrenze als ich und fühlen sich dann eventuell verletzt. Natürlich möchte ich niemanden verletzten, niemanden wehtun, weder religiöse, gesellschaftliche noch persönliche Dinge verletzend äußern. Ich möchte mit meinen Beiträgen die Leute unterhalten, die Menschen ein Stück aus ihrem Alltag herausholen. Ich bin nicht der politische Karnevalist. Die letzten Jahre habe ich meine Fastnachtsauftritte immer mit einem Bildungsansatz verbunden, um meine christliche Botschaft zu transportieren. Daher habe ich im letzten Jahr als Heiliger Johannes Nepomuk und das Jahr zuvor als Fan der Heiligen Katharina Kaspar auf der Bühne gestanden. In diesem Jahr war ich dann mit der „Karnevalistischen Sakramenten Kunde“ im Netz unterwegs.

Dies setzt voraus, dass ich in mir selbst bereits einen guten moralischen Kompass habe.

Pfarrer Andreas Fuchs: Fastnacht findet nicht außerhalb des normalen Lebens. Oft sagt man, es ist die fünfte Jahreszeit. Es ist also eine von fünf Jahreszeiten. Ich bin aber das ganze Jahr ein humorvoller Mensch. Auch sonst muss ich schauen, was ich sagen kann und was nicht. Dies gehört zum Alltag dazu. Ich kann alles denken. Ich muss nicht alles, was ich denke, auch sagen. Und ich muss mir überlegen, wen ich vor mir habe und wem ich etwas wie sagen kann. Erzähle ich einen Witz an der Theke oder halte ich eine Predigt in der Kirche. Für jede Situation muss ich den Blick auf mein Gegenüber haben.

Bei Kritik auf die Wortwahl achten

Die Fastnacht fiel in diesem Jahr anders aus, große Veranstaltungen gab es nicht. Kritiker an den Corona-Maßnahmen haben dies genutzt, um unter dem Deckmantel eines „Maskenballs“ eine Demonstration auf dem Neumarkt in Limburg zu veranstalten. In einer „Büttenrede“ wurde auch der Missbrauchsskandal der Kirche mit sehr scharfen Worten kritisiert. Fällt diese Rede für Sie noch unter eine karnevalistische Büttenrede?

Pfarrer Andreas Fuchs: Ich war bei diesem „Auftritt“ nicht live dabei, kenne nur einen Videomitschnitt, der mir von einigen Menschen übermittelt wurde. Ich fand ihn abstoßend und völlig fehl am Platz. Das war für mich keine politische Fastnacht und erst recht kein Kokolores. Da habe ich ein anderes Verständnis.

Wenn Sie mich auf die sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche und ihre Aufarbeitung ansprechen, dann kann ich nur bekennen, dass es Missbrauch in der katholischen Kirche gegeben hat. Es gab Fehler im System der katholischen Kirche, die durch die MHG-Studie aufgezeigt wurden. Es gibt Aufklärung und Aufarbeitung. Dies funktioniert in den deutschen Bistümern unterschiedlich gut, wenn ich das Bistum Limburg mit dem Erzbistum Köln vergleiche. Das sind zwei Weisen, wie man damit umgeht. Ich weiß auch, dass ich als Priester in der katholischen Kirche zum System gehöre. Daher höre ich mit meinem Ohr nochmal anders als jemand, der von außen drauf schaut. Daher fühle ich mich auch ein Stück weit angegriffen von diesem „Auftritt“. Und ich frage mich dann, welchen Anteil ich daran habe. Habe ich etwas getan, um etwas zu vertuschen oder eine Aufklärung zu vermeiden? Habe ich etwas nicht gesehen oder vor irgendwas die Augen verschlossen? Ich habe mir etwas zu Schulden kommen lassen. Aber alles, was der Kirche vorgeworfen wird, höre ich auch auf meinem Ohr. Von daher muss ich sagen, dass Kritik angebracht ist und die muss man auch öffentlich äußern. Bei all dem müssen wir aber die Betroffenen im Blick haben und den Weg mit den Betroffenen gehen. Alles was geschieht, auch an Veröffentlichungen, müssen wir mit den Betroffenen absprechen. Das ist kein einfacher Weg und auch kein schneller Weg. Das Tempo bestimmt nicht der Kritiker, sondern die Betroffenen. Und das ist etwas ganz anders. Je nachdem, wie etwas formuliert wird, verletzt es nochmal die, die sowieso schon Leid erfahren haben. In diesem „Auftritt“ waren Formulierungen, die sehr verletzen.

Die Kritik war so formuliert, als ob dies immer noch Bestand hat, als ob keine Aufarbeitung stattfindet. Fällt dies für Sie unter Meinungsfreiheit und ab wann sollte man eventuell sagen, dass es sich zwar um eine Meinung handelt, aber diese sollte im öffentlichen Raum nicht so geäußert werden?

Pfarrer Andreas Fuchs: Ich tue mich als Vertreter der Kirche schwer, jemand anderen zu verbieten, die Kirche zu kritisieren. Das kann ich kaum. Das kann ich niemanden verbieten, das ist für mich als Feststellung wichtig. Was jemand sagt, muss wahr sein. Wenn es nicht wahr ist, können Dinge nicht behauptet werden. Darauf muss man achten. Entspricht das, was geäußert wird, noch der Wahrheit? Da muss man sich auch selbst prüfen. Erzähle ich alte Kamellen oder erzähle ich Dinge, die aktuell noch passieren? Das zweite ist: wenn ich Dinge sage, die wahr sind, dann tut das dem, der das hört, per se schon weh. Die Wahrheit ist nicht immer leicht zu tragen. Das muss derjenige dann aber auch aushalten. Es wäre falsch zu sagen, wenn es wahr ist und weh tut, darf es nicht gesagt werden. Das ist der falsche Weg. Das dritte ist für mich, immer nochmal zu schauen, ob ich die Betroffenen im Blick habe bei all dem, was ich äußere. Sind die Betroffenen der Maßstab für meine Äußerungen? Können die Betroffenen meine Äußerungen mittragen?

Bei der ganzen Aufarbeitung spielen die gewählten Worte eine Rolle. Bei allem, was an Worten nach außen geht, versuchen alle auch, die Opfer zu schützen. In Berichten Zeitungsartikeln und auch Untersuchungsunterlagen geht es darum, dass es Opfer gibt, aber es wird auch versucht, sie nicht nochmal alles durchleben zu lassen, sie zu schützen. Dies kann ich bei diesem Beitrag nicht erkennen. Bildlich wurde massiv in dieses Thema reingegangen. Meiner Meinung nach gehört dies nicht auf einen Marktplatz.

Pfarrer Andreas Fuchs: Die Wortwahl ist für mich was ganz Entscheidendes bei diesem „Auftritt“. Muss ich diese Worte verwenden? Ich will sie bewusst nicht wiederholen. Muss ich diese Bilder in so schrillen Farben malen? Das ist schon meine Frage, die ich habe.

Lässt sich dieser Beitrag als Satire einordnen?

Pfarrer Andreas Fuchs: Wenn, wie hier geschehen, ich vor dem „Auftritt“ sage, dass es Satire ist, ist dass, was ich dann sage, noch lange nicht automatisch Satire. Satire muss einige Voraussetzungen erfüllen, um Satire zu sein. Der Duden definiert Satire wie folgt: Kunstgattung (Literatur, Karikatur, Film), die durch Übertreibung, Ironie und [beißenden] Spott an Personen, Ereignissen Kritik übt, sie der Lächerlichkeit preisgibt, Zustände anprangert, mit scharfem Witz geißelt.

Das habe ich bei dem „Auftritt“ so nicht verstanden. Das war alles andere als zum Lachen. Zustände sind angeprangert worden, ja. Es ist scharf gegeißelt worden, aber aus meiner Sicht nicht mit Witz. Da ist an Ereignissen Kritik geübt worden, aber es wurde nicht von einzelnen Personen gesprochen, sondern von Institutionen. Es wurde allgemein geschaut, aber nicht, was der Einzelne an Verantwortung daran trägt. Ich kann nicht alle unter Generalverdacht stellen oder in Sippenhaft nehmen. Und die Kirche, das sind nicht alle Gläubigen. Da gehören alle getauften Christen dazu.

Als Gesellschaft Grenzen aufzeigen

Ich finde es schade, dass so viel sagbar wird. Bei einem anderen Thema habe ich die Polizei angesprochen. Sie wurde in einem Video diffamiert und es wurde eine Falschaussage getätigt. Die Polizei wollte gegen das Video nicht vorgehen, denn es sei Meinungsfreiheit. Ich habe so ein wenig Angst, dass diese Grenze zwischen dem Sagbaren und nicht sagbaren verschiebt. Die Tendenz gab es die letzten Jahre schon. Dies sieht man auch in den sozialen Netzwerken. Teilweise habe ich das Gefühl, dass die Menschen überhaupt nicht mehr reflektieren, was sie sagen oder schreiben. Wo ist da die Scheu der Menschen, etwas zu sagen und wieder zurückzukehren zu mehr Sachlichkeit.

Ist es nicht die Pflicht der Mehrheit zu sagen, stopp, diesen Umgangston wollen wir nicht?

Pfarrer Andreas Fuchs: Die freie Meinungsäußerung steht jedem zu und sie ist ein hohes Gut. Es darf auch jeder davon Gebrauch machen. Wenn mir etwas nicht passt und ich etwas anders sehe, dann darf auch ich meine Meinung äußern. Wenn ich das Recht habe, meine Meinung frei zu äußern, dann setze ich meine Meinung auch den anderen Meinungen aus. Aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Meinungen kann sich dann etwas entwickeln. Die Schwachstelle der sozialen Netzwerke ist zum Beispiel, dass sich dort sehr schnell eine Blase all derjenigen, die sich für ihre Meinung auf die Schulter klopfen und die Andersmeinenden kritisieren und beleidigen bildet. Wenn ich nicht bereit bin, meine Meinung gegen eine andere zu äußern und auch nicht zulasse, dass jemand eine Meinung gegen meine Meinung äußert, dann entsteht auch keine Meinungsbildung. Im alleinigen Gespräch mit Meinesgleichen bekomme ich nur auf die Schulter geklopft. Wenn ich nur im Kreis Kirche bleibe und mich nicht der Gesellschaft öffne, habe ich nur einen Binnenblick. Aber gerade dieses Öffnen zur Gesellschaft und der Blick von außen hat uns geholfen die Aufarbeitung des Missbrauchs anzugehen.

Aber darf Meinungsfreiheit alles oder gibt es Grenzen?

Pfarrer Andreas Fuchs: Für mich hört die eigene Freiheit da auf, wo ich an die Freiheit des anderen stoße, da, wo ich den anderen verletzte, wo ich ihm Schaden zufüge durch das, was und wie ich es sage oder tue. Da sehe ich für mich Grenzen. Ich kann jemanden sagen, dass er auf dem Holzweg ist. Aber dies muss ich in einer Form tun, dass es der andere noch annehmen kann. Ich darf ihm das nicht um die Ohren hauen.

Das geschieht für mich richtig im Austausch von Fakten, in der Argumentation, im Widerlegen von Behauptungen. Es geschieht in einem Diskurs. Aber um einen Diskurs stattfinden zu lassen, braucht es unterschiedliche Beteiligte und auch die Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen. Und dazu gehört auch, diesen Diskurs so zu führen, dass der andere auch leben kann und ich ihn nicht kaputt mache.

Würden Sie denn das Gespräch mit solchen Leuten auch suchen, um mit ihnen in den Diskurs zu gehen?

Pfarrer Andreas Fuchs: Ich habe mir schon überlegt, ob ich mir eine solche Veranstaltung nicht einmal live anschaue. Bisher kenne ich nur das Video. Ich finde es wichtig, diese Dinge live zu erleben, um den gesamten Rahmen und das Setting einordnen zu können. Auch um zu schauen, wie groß die Gruppe wirklich ist, wie das Umfeld. Da ich natürlich für freie Meinungsäußerung bin, würde ich mich dem Austausch von Meinungen nicht verschließen. Wir müssen dabei ein Niveau erreichen, auf dem ein Diskurs möglich ist.

Ein Beispiel: Wenn ich in den Deutschen Bundestag schaue und auf die AfD- was die schon Unsagbares im Bundestag gesagt haben. Es wird nicht richtig, wenn ich es nur oft genug wiederhole. Nur weil ich etwas sage, hat ist es noch nicht Realität, auch wenn ich es noch so oft behaupte oder wiederhole. Dies haben wir auch beim ehemaligen Präsidenten von Amerika gesehen. Wenn ich mir meine Welt so baue, wie ich will, ist es meine gebaute Welt, aber nicht die Realität, in der auch die anderen Menschen leben.

Daher muss ich mich auch immer wieder mit den anderen auseinandersetzen, um zu schauen, was stimmt, was ist real? Was ist mein Bild, was ist das Bild der anderen und welches Bild haben wir miteinander von der Welt, in der wir leben. Da kann man auch schonmal sehr unterschiedlicher Meinung sein.

Ich glaube nicht, dass alle, die dort sind, so extrem in ihren Ansichten sind. Ich kann auch teilweise Kritik an der derzeitigen Situation verstehen. Mir zum Beispiel fehlen noch immer Konzepte. Ich bin auch jemand, der sagt, dass Kritik sein muss sowie Aufarbeitung. Aber warum schaffen diese Leute, die aufstehen und zeigen, dass sie nicht mehr können, warum schaffen diese nicht die Distanzierung zu den Extremen? Dies ist allgemein ein Problem der Kritiker, dass diese von den Extremen infiltriert werden. Warum schaffen sie nicht die Distanzierung zu diesen Kräften?

Pfarrer Andreas Fuchs: Im Leben ist es immer so, dass ich mit dem Blick nach vorne mein Leben gestalte. Und dies kann ich immer nur mit dem Wissen von heute. Mit dem Blick zurück verstehe ich mein Leben. Und dann kann ich auch klären, ob die Entscheidung richtig war oder nicht, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe oder nicht. Rückwärtsblickend kann ich meinem Leben Sinn geben und es einordnen. Vorwärtsgehend geht dies so nicht.
Wenn ich zurückliegende Situationen oder Handlungsweisen kritisiere, kann ich dies nie mit dem Wissen von heute rückblickend tun und anderen vorhalten, sondern muss dies immer mit dem Wissen von damals tun. Ich kann mich heute nicht überheben über die Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus und dieses oder jenes anprangern mit dem Wissen, was ich heute habe. Sondern ich muss schauen, wie die damalige Zeit war, welcher Druck auf den Menschen gelastet hat. Das lässt die eine oder andere getroffene Entscheidung eventuell nachvollziehbarer werden.

Für die eigene Überzeugung eintreten

Wollen Sie damit sagen, dass manche Menschen ihre jetzigen Handlungen gerade nicht richtig reflektieren können?

Pfarrer Andreas Fuchs: Im Rückblick sagen sicher einige, „hätte ich das damals gewusst, dass sich das so entwickelt, dann hätte ich da nicht mitgemacht. Ich habe immer noch an das Gute gedacht, dass es wichtig ist, dass jemand die Meinung sagt, auch mal laut sagt, aber es hat sich in eine Richtung entwickelt, die ich nicht wollte.“ Die Menschen kommen mit ihrem Zugang, ihrem Blick, ihrer Bürde dahin, finden Äußerungen, denen sie zu einem bestimmten Grad zustimmen können, auch wenn nicht zu 100 Prozent. Aber sie können nicht sagen, wo dies endet. Wenn sie dies wüssten, würden sie sich eventuell nicht dazustellen. Vielleicht haben die Menschen auch nicht die Kraft, sich selbst zu organisieren und zu vereinigen. Dann hören sie verschiedene Dinge und nehmen für sich das mit, was zu ihnen passt.
Dies ist auch bei jedem Partei- oder Wahlprogramm so. Man wird niemanden finden, der zu 100 Prozent zu einem Programm steht, aber wenn die Mehrheit der eigenen Sichtweisen abgespiegelt wird, fühlt man sich der Partei zugehörig. Man muss immer Kompromisse machen. Wie weit bin ich bereit, Kompromisse zu machen und ab wann passt es nicht mehr? Dann verlassen die Menschen eine Partei oder wählen eine andere.

Es gibt Menschen, die haben eine Begabung, aufzutreten, sich hinzustellen und etwas zu sagen. Sie können Menschen in ihren Bann ziehen, positiv und auch negativ. Aber auch das muss ich immer hinterfragen, was ist meins von den Äußerungen, um niemanden auf den Leim zu gehen.

Heißt das im Gegenzug, dass Sie den moralischen Zeigefinger unterlassen würden und jeder seinem eigenen Wertekompass vertrauen soll? Oder plädieren Sie schon dafür, auch mal darauf hinzuweisen, wenn etwas über den Wertekompass hinausgeschossen war?

Pfarrer Andreas Fuchs: Wenn ich von mir persönlich spreche, dann kann ich meinen moralischen Zeigefinger immer nur so hoch erheben, wie ich selbst die Moral erfülle. Ich würde immer sagen, dass ich das lebe, was ich für mich richtig halte. Auch gegen die Kritik anderer. Wenn ich der Überzeugung bin, dass das und das richtig ist, muss ich dafür eintreten. Dies muss jeder für sich tun entscheiden, wenn andere der gleichen Meinung sind sollten sie sich zusammenschließen und gemeinsam vorgehen. Wenn jemand etwas sagt, weil dies sein innerstes Bedürfnis ist, dann muss er dies sagen und auch sagen dürfen, wenn dies im Rahmen des Sagbaren geschieht. Wenn es diesen Rahmen überschreitet, wenn Gesetze und Rechte verletzt werden, dann muss man auch etwas dagegen tun. Derjenige, der im Rahmen bleibt, muss aber auch ertragen können, dass jemand das genaue Gegenteil davon äußert. Dies muss man auch akzeptieren. Und dann habe ich auch ein Stück weit den erhobenen Zeigefinger, aber eben anders.

 

 

Heike Lachnit

Ich bin freie Lokaljournalistin in der Region um Limburg. Auf HL-Journal schreibe ich über die Themen, die nicht immer in der Zeitung Platz haben oder die mir am Herzen liegen.

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